Monatsarchiv: Oktober 2016

HG/M99: Vertragsfreiheit und Eigentumsrecht

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Am heutigen Tag (Sonntag, 9. Oktober 2016) wohnt HG immer noch im M99 und betreibt dort seinen Laden; in bürgerlichen Begriffen: Er ist selbständiger Unternehmer, der seine bürgerliche Existenz ohne staatliche Unterstützung bestreitet. Dabei war die von Sarah und Frederick Hellmann betriebene Zwangsräumung von HG aus dem M99 doch für den 22.09.2016 angesetzt. Aber einen Tag vorher, am 21.09.2016, setzte Richter Grüter vom Landgericht Berlin die Zwangsräumung gegen HG einstweilen aus: In der Zwischenzeit soll ein Gutachten eingeholt werden, zur Klärung der Gefahr des Suizids durch HG als Reaktion auf die Zwangsräumung. Es liegen entsprechende Atteste verschiedener Einrichtungen vom 23.07., 18.08. und 15.09. diesen Jahres vor, die das Amtsgericht Tags zuvor nicht von der Rechtmäßigkeit eines Räumungsaufschubs überzeugt hatten.

In einem zweiten Absatz begründet Richter Grüters, warum dieser Aufschub gerechtfertigt ist, obwohl HG doch am 03.08.2016 in einem Räumungsvergleich unterschrieben hatte, den M99 bis zum 20.09.2016 zu räumen – und damals bereits durch das Attest des Vivantes Klinikums Neukölln vom 23.07.2016 um die Gefahr wissen konnte, möglicherweise im Fall der Zwangsräumung in Gefahr zu sein, Suizid zu begehen. Deswegen sei ein Verstoß HGs gegen die Grundsätze von Treu und Glauben festzustellen, die nach Richter Grüters auch das Zwangsräumungsvollstreckungsverfahren beherrschen.

Heißt: Eigentlich hätte HG den Räumungsvergleich gar nicht unterschreiben dürfen, sondern hätte den M99 gleich räumen müssen, weil er hätte wissen können, dass er den Vergleich möglicherweise nicht würde einhalten können, ohne sich dabei umzubringen. Die herrschende Rechtsprechung benutzt die Vorstellung, Verträge würden zwischen freien und gleichen Vertragspartnern geschlossen, auch wenn es sich um derart ungleichen Vertragspartner wie etwa MieterInnen und VermieterInnen handelt. Also hätte HG den Räumungsvergleich nicht unterschreiben und sich nicht später in der Beschwerde gegen die Zwangsräumung auf die Atteste berufen dürfen. Beides zu tun trägt ihm den Vorwurf des Missbrauch des Rechts ein, weshalb der bürgerlichen Rechtsprechung gilt: HG soll selbst juristischen Widerstand gegen seine Zwangsräumen unterlassen und eben gehen, auch wenn‘s die Existenz kostet.

Richter Grüter formulierte im dritten und letzten Absatz, aus welchen Gründen ein Räumungsaufschub für HG rechtlich nicht geboten ist: Der Umstand, dass HG bereits einen Vertrag auf einen neuen berollbaren Laden zum Wohnen und Arbeiten mit Bezugstermin 01.05.2017 unterschrieben hat, ist kein Grund für einen Aufschub der Zwangsräumung, weil HG im Räumungsurteil vom 26.02.2015 bereits „in Hinblick auf seine Behinderung eine großzügig bemessene Räumungsfrist bis zum 31.12.2015 gewährt“ worden sei. „Seitdem sind bereits wieder 9 Monate verstrichen.“ Sarah und Frederick Hellmann, die „ob mit oder ohne Zutun des Schuldners [gemeint ist HG] kann dahinstehen – von sogenannten Kiezbewohnern unter erheblichen Druck gesetzt werden, ist nicht zuzumuten, nochmals sieben Monate mit der Räumung zuzuwarten“. Die bürgerliche Rechtsprechung durch Richter Grüter findet eine Räumungsfrist großzügig bemessen, ohne sie auch nur mit einem Wort ins verhältnis zum hiesigen Immobilienmarkt zu setzen, eine Verzögerung der den Marktverhältnissen entsprechenden Verwertung des von HG bewohnten Ladens für die EigentümerInnen jedoch unzumutbar – die Zerstörung der bürgerlichen Existenz HGs, der an diesem Markt niemals einen für ihn geeigneten Laden in Berlin gefunden hätte, ist HG hingegen zuzumuten, weil er eben kein Eigentum hat, das er dagegen in Stellung bringen könnte.

„Geht es um den Schutz hochrangiger Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit, muss im Einzelfällen [sic!] der Einwand des Rechtsmissbrauchs durch den Eigentümer zurücktreten, gegenteiligenfalls ein wirksamer Schutz der genannten Rechtsgüter nicht gegeben wäre“,
so Richter Grüters. „Eigentum verpflichtet“ (Art. 14, Satz 2 des Grundgesetzes) also dazu, zu prüfen, ob die freie Verfügung über das Eigentum geradewegs in den Tod eines Menschen führt; Eigentum verpflichtet (ganz schön reiche) Eigentümer hingegen nicht dazu, sieben (weitere) Monate mit der Verwertung eines Teils einer Immobilie zu warten, wenn der noch selbständige Rollstuhlfahrer danach statt dessen nur langsam z.B. in einer Obdachlosenunterkunft vor die Hunde geht.

Soweit die bürgerliche und herrschende Rechtsprechung zum Thema Vertragsfreiheit und Sozialbindung des Eigentums. Das Bündnis Zwangsräumung verhindern! vertritt dagegen, dass es richtig ist, sich gegen die Zerstörung der eigenen oder anderer Leute Existenz zu wehren und solchen Widerstand zu organisieren.

Die nächste Aufführung der rechtsstaatlichen Legitimierung der Verdrängung von HG/M99 zum höheren Profit von Sarah und Frederick Hellmann wird voraussichtlich vor dem 1. Mai 2017 statt finden.

…und was gibt es Neues aus der Berlichingenstraße 12?

Erfolgreich haben die Männer aus dem Obdachlosenheim in der Berlichingenstraße 12 bis heute ihr Wohnrecht verteidigt. Zur Erinnerung: die Eigentümer, u.a. Herr Korenzecher hatten dem Gästehaus Moabit zum Anfang des Jahres gekündigt, weil das Geschäft mit der Flucht rentabler ist, als das Geschäft mit der Armut, d.h. die Männer sollten das Haus verlassen, weil die Gikon einen Mietvertrag auf der Grundlage der Belegung mit Geflüchteten geschlossen hatte. Aber die Bewohner wollten nicht zurück auf die Straße. Einige von ihnen kamen zum Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ und gemeinsam wurde protestiert. Im Ergebnis sicherte der Sozialsenator zu, das Heim nicht mit Geflüchteten zu belegen.

Nun hat die Hausverwaltung im Namen der Eigentümer erneut die Herausgabe des Hauses gefordert. Rechtlich ist die Konstruktion der Vermietung über Träger eine Grauzone. Sind die Mieter nur „Gäste“ oder haben sie ein Wohnrecht erlangt? Darüber wird sich das Gericht demnächst Gedanken machen müssen. In der Zwischenzeit hat die Polizei zusammen mit der Hausverwaltung Berolina bereits alle Zimmer geräumt, die von Zwischennutzern belegt waren. Schade, dass das so sang und klanglos ging, denn Leerstand sollte doch bewohnt sein.

Nun gilt abzuwarten, was die neue Parteienlandschaft für die Bewohner der B12 zu bieten hat. Im Gespräch ist der neue Bürgermeister Herr Dassel, der sich als Sozialstadtrat ganz rührend für die Bewohner eingesetzt hat. Aber auch die Nachfolgerin des Sozialsenators wird von den Linken mit Carola Bluhm gehandelt. Es kann also nur besser werden, den Frau Pop von den Grünen, im Gespräch als neue Innensenatorin, wird die Amtshilfe bei einer Zwangsräumung sicher nicht bedienen und eigene Akzente setzen wollen. Also warten wir gespannt ab, wie sich das Menschenrecht auf Wohnen für unsere NachbarInnen in der B12 unter den veränderten politischen Bedingungen gestalten wird. Mindestens die Linken hatten uns ja versprochen, dass mit Ihnen die Stadt uns gehört. Der erste Härtetest steht ihnen bevor.

Our Cities Not For Speculation!

Wohnungen sind Spekulationsobjekt in ganz Europa mit all seinen Folgen. Dagegen gibt es im Oktober Aktionen in verschiedenen europäischen Ländern. Weitere Infos hier und im Mobivideo:

Die European Action Coalition for the Right to Housing and the City ist ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen und Initiativen aus dem Bereich Stadt und Wohnen, der sich seit 2013 im Aufbau befindet. Als Bündnis Zwangsräumung Verhindern sind wir Teil dieses Zusammenschlusses. Ziel der Coalition ist es, einen transnationalen Ausdruck stadtpolitischer Kämpfe zu finden, gemeinsam Aktionen zu organisieren und auf einer horizontalen Ebene Austausch und Vernetzung voranzutreiben. Mehr Informationen in der Broschüre (englisch) Resisting Evictions Across Europe oder hier: http://housingnotprofit.org/en