Was bleibt nach 34 Jahren Leben im Kiez? Diese Frage veranschaulichten wir vergangenen Sonntag auf dem angesagten Flohmarkt am Neuköllner Maybachufer. Mireille, seit langem aktiv im Bündnis Zwangsräumung Verhindern, muss von „Kreuzkölln“ nach Rudow ziehen und kommt damit einer Zwangsräumung zuvor. Die Vermieterin hatte kein Nachsehen. Klar, kann sie doch jetzt die Miete für die Wohnung in der Nähe der Schönleinstraße glatt verdoppeln.
Mit Mireille, ihren letzten Sachen, einem Megaphon und vielen Flyern ging es dann zu dem Ort, der für das hippe Kreuzkölln steht. Mireille ist gerne auf dem Flohmarkt und freut sich über die vielen Neuankömmlinge im Kiez. Sie selbst muss jetzt gehen.
Mireille, 61: Geschichte einer ganz normalen Verdrängung
Kreuzkölln 1980 zieht Mireille in ihre Wohnung in der Schinkestraße, eine Minute vom Maybachufer entfernt. Kreuzkölln gabs noch nicht, der Norden Neuköllns war Westberliner Rand, besetzte Häuser, viele Wohngemeinschaften, eine offene und solidarische Atmosphäre im Kiez. Gegenseitige Unterstützung, gemeinsames Kochen, am Landwehrkanal die Sonne genießen, genau so, wie Mensch sich eine gute Nachbarschaft vorstellt. Mireille, aufgewachsen in Casablanca und Paris kam 1979 nach Berlin – natürlich der Liebe wegen. Sie hat für die Alliierten am Flughafen Tegel als Fremdsprachenkorrespondentin und später als Übersetzerin und Dolmetscherin gearbeitet.
Vor ungefähr 10 Jahren dann begann der Ärger um die Wohnung. Die Erbengeneration hatte die Geschäfte übernommen und Profite gerochen. Der Kiez war schon im Wandel, der Berliner Immobilienmarkt erfuhr zunehmend wachsende Aufmerksamkeit, die Leerstände wurden weniger und die Mieten fingen an zu steigen. Dann gab es Streitigkeiten wegen nicht behobener Wasserschäden, Fahrräder wurden von der Hausverwaltung aus dem Keller entfernt und alles getan, um Mireille, die mittlerweile eine vergleichsweise günstige Miete zahlte, das Leben in ihrer Wohnung zu erschweren.
Als sie ihre Arbeit verlor, verlor sie auch den Überblick und die Kraft sich um die juristischen Auseinandersetzungen mit den Eigentümer*innen zu kümmern. Die meisten alten Bekannten und Freund*innen waren längst weg gezogen, aus Wohngemeinschaften wurden Luxus-Lofts und die Trödelläden wichen schicken Bars und Geschäfte junger Modedesigner*innen. Mireille gefallen die neuen Läden und die interessanten Menschen aus aller Welt, nur die Solidarität fehlt ihr.
Eine Räumungsklage gegen sie, wegen angeblicher Mietrückstände, weil sie ihre Mietzahlungen nicht schnell genug an die ständigen Erhöhungen anpasste, wurde vom Amtsgericht zurückgewiesen. Das Landgericht allerdings rechnete anders und fand irgendwo die benötigten zwei Monatsmieten Rückstand und entschied wie so oft für die Eigentümer*innen. Heute, am 30. November 2014 hat Mireille die letzten Sachen aus der Wohnung geholt, in der sie 34 Jahre lebte.
Mireille ist seit zwei Jahren im Bündnis Zwangsräumung verhindern! aktiv. Wie die meisten Menschen, hat sie nicht bis zur Zwangsräumung durch den Gerichtsvollzieher gewartet. Sie hat Glück im Unglück und landet nicht auf der Straße. Sie hat eine kleine, teuere Wohnung in Rudow gefunden. Mireille bekommt ungewollt die Chance, sich mit 61 Jahren nochmal ein vollkommen neues Wohnumfeld aufzubauen. Das ist die Geschichte einer ganz normalen Verdrängung.
Das bleibt nach 34 Jahren: